LAG Hamm – 6 Sa 1344/10

Betriebsbedingte Kündigung – Massenentlassung – Schriftform bei der Unterrichtung des Betriebsrats

Landesarbeitsgericht Hamm,  Urteil vom 15.12.2010, 6 Sa 1344/10

Leitsätze des Gerichts:

Eine lediglich mündliche, jedoch mit den Pflichtangaben nach § 17 Abs. 2 S. 1 Nrn. 1- 5 KSchG versehene Unterrichtung führt trotz Verstoßes gegen § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG nicht zur Unwirksamkeit einer im Zusammenhang mit der Massenentlassung erklärten Kündigung

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Paderborn vom 02.07.2010 – 4 Ca 88/10 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

 

Die Revision wird zugelassen.

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Tatbestand:

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Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer Kündigung und über den kündigungsabhängigen Anspruch auf Vergütung.

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Von der Darstellung des Vorbringens der Parteien in der ersten Instanz wird nach § 69 Abs. 2 ArbGG unter Bezugnahme auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils (Bl. 183 – 185 d.A.) abgesehen.

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Das Arbeitsgericht Paderborn hat die Klage mit Urteil vom 02.07..2010 – 4 Ca 88/10– abgewiesen. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe der angefochtenen Entscheidung verwiesen (Bl. 185 – 187 d.A.).

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Das Urteil ist der Klägerin am 07.07.2010 zugestellt worden. Hiergegen richtet sich die am 06.08.2010 eingelegte und mit dem – nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 07.10.2010 – am 07.10.2010 bei dem Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz begründete Berufung.

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Die Klägerin meint, die Kündigung sei bereits unwirksam, weil der Betriebsrat nicht nach § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG schriftlich über die geplante Massenentlassung unterrichtet worden sei.

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Die Klägerin beantragt,

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das erstinstanzliche Urteil aufzuheben und festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen der Klägerin und dem beklagten Insolvenzverwalter durch Kündigung vom 16.10.2009, zugegangen am 17.10.2009, noch nicht aufgelöst ist,

festzustellen, dass der Klägerin eine Masseverbindlichkeit in Höhe von 5.927,06 EUR brutto zusteht, die gem. § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO zu berichtigen ist.

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Der Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Der Beklagte verteidigt das erstinstanzliche Urteil als zutreffend.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird auf den von ihnen in Bezug genommenen Inhalt der in beiden Rechtszügen zu den Akten gereichten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

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Entscheidungsgründe:

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Die Berufung ist an sich statthaft (§ 64 Abs. 1 ArbGG), wegen des Streitgegenstands zulässig (§ 64 Abs. 2 Buchst. c ArbGG) sowie in gesetzlicher Form und Frist eingelegt (§ 519 ZPO i.V.m. § 64 Abs. 6 S. 1 ArbGG, § 66 Abs. 1 S. 1 ArbGG) und innerhalb der Frist (§ 66 Abs. 1 S. 1 ArbGG) und auch ordnungsgemäß (§ 520 Abs. 3 i.V.m. § 64 Abs. 6 S. 1 ArbGG) begründet worden. Sie hat in der Sache keinen Erfolg. Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Arbeitsgericht die Klage als unbegründet abgewiesen. Die Kammer folgt den Ausführungen des Arbeitsgerichts zur Unbegründetheit der Klage und sieht insoweit von der Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 69 Abs. 2 ArbGG). Die Berufungsbegründung gibt zu den folgenden Ergänzungen Anlass.

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1. Die Kündigung ist nicht wegen Verstoßes gegen die Pflicht aus § 17 Abs. 2 S.1 KSchG zur schriftlichen Unterrichtung des Betriebsrats über die Massenentlassung unwirksam.

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1.1. Nach § 17 Abs. 2 KSchG hat der Arbeitgeber bei einer nach § 17 Abs. 1 KSchG anzeigenpflichtigen Entlassung (Massenentlassung) das Konsultationsverfahren durchzuführen. Nach § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG hat er den Betriebsrat insbesondere über die in § 17 Abs. 2 S. 1 Nrn. 1 – 6 KSchG angeführten Punkte schriftlich zu unterrichten und nach § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG der Bundesagentur für Arbeit eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat zuzuleiten. Nach § 17 Abs. 2 S. 2 KSchG haben Arbeitgeber und Betriebsrat insbesondere die Möglichkeiten zu beraten, Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen zu mildern. Nach Abschluss der Beratungen hat der Arbeitgeber die Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 S. 1 KSchG gegenüber der Bundesagentur für Arbeit zu erstatten, und zwar nach § 17 Abs. 3 S. 2 KSchG schriftlich unter Beifügung der Stellungnahme des Betriebsrats. Ein Interessenausgleich nach § 1 Abs. 5 S. 1 KSchG ersetzt nach § 1 Abs. 5 S. 4 KSchG die Stellungnahme des Betriebsrats nach § 17 Abs. 3 S.2 KSchG.

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1.2. Das Konsultationsverfahren wurde von dem Beklagten ordnungsgemäß durchgeführt.

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1.2.1. Im Streitfall konnte das Konsultationsverfahren gegenüber dem Gesamtbetriebsrat durchgeführt werden. Bei beabsichtigten Massenentlassungen ist zwar regelmäßig der Betriebsrat zu beteiligen. Dieser hat hier aber unstreitig (vgl. auch Präambel des Interessenausgleichs, dort Abs. 4 – Bl. 41 d.A.) den Gesamtbetriebsrat nach § 50 Abs. 2 S. 1 BetrVG beauftragt, was zulässig ist (Reinhard, RdA 2007, 212).

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1.2.2. Das Konsultationsverfahren wurde ordnungsgemäß schriftlich gegenüber dem Gesamtbetriebsrat eingeleitet. Zumindest dann, wenn wie hier in einem Interessenausgleich die Pflichtangaben nach § 17 Abs. 2 S. 1 Nrn. 1 – 5 KSchG enthalten sind, genügt der Arbeitgeber mit der Vorlage des Interessenausgleichs beim Betriebsrat zur Befassung und Unterzeichnung zugleich der Pflicht zur schriftlichen Unterrichtung nach § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG. Der Betriebsrat kann dann eine (Erst-) Beratung oder eine Fortführung der ggf. zuvor erfolgten Beratungen auf der Basis einer mündlichen Unterrichtung verlangen oder aber die nun auch schriftliche Unterrichtung unter Bezugnahme auf die bereits erfolgte Beratung zum Anlass der abschließenden Unterzeichnung des Interessenausgleichs nehmen.

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1.2.3. Selbst wenn die "Unterrichtung" erst durch Vorlage des Interessenausgleichs nicht der gebotenen schriftlichen Unterrichtung nach § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG genügte, führte eine lediglich mündliche, jedoch mit den hier unstreitig erfolgten Pflichtangaben nach § 17 Abs. 2 S. 1 Nrn. 1 – 5 KSchG versehene Unterrichtung nicht zur Unwirksamkeit einer im Zusammenhang mit der Massenentlassung erklärten Kündigung (im Ergebnis ebenso MünchKomm-Hergenröder, 5.A., § 17 KSchG Rn. 44 m.w.N.).

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1.2.3.1. In den gesetzlichen Regelungen zum Konsultationsverfahren findet sich keine dem § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG entsprechende Nichtigkeitsanordnung für den Fall der Nichtdurchführung oder nicht ordnungsgemäßen Durchführung des Konsultationsverfahrens.

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1.2.3.2. Eine analoge Anwendung des § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG auf den Fall der nicht formgerechten Einleitung des Konsultationsverfahrens ist abzulehnen. Die entsprechende Anwendung einer Gesetzesnorm kommt regelmäßig nur in Betracht, wenn die gesetzliche Regelung planwidrig lückenhaft erscheint und zur Ausfüllung der Lücke die Übertragung der Rechtsfolge eines gesetzlichen Tatbestands auf einen vergleichbaren, aber im Gesetz nicht geregelten Tatbestand erforderlich ist. Dabei muss eine dem Plan des Gesetzgebers widersprechende Lücke bestehen oder sich jedenfalls später durch eine Veränderung der Lebensverhältnisse ergeben haben. Der dem Gesetz zugrunde liegende Regelungsplan ist aus ihm selbst im Wege der historischen und teleologischen Auslegung zu schließen und es ist zu fragen, ob das Gesetz, gemessen an seiner eigenen Regelungsabsicht, unvollständig ist (BAG 18.12.2008 – 8 AZR 660/07).

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Für den Fall der nicht formgerechten Einleitung des Konsultationsverfahrens fehlt es an einem vergleichbaren, in § 17 Abs. 2 KSchG aber nicht geregelten, Tatbestand in § 102 Abs. 1 BetrVG. Zwar sehen die Regelungen zur Konsultation bei Massenentlassungen keine Rechtsfolgen für den Fall der Verletzung von Handlungspflichten vor. In § 102 Abs. 1 BetrVG fehlt es aber an einer Formvorschrift für die Einleitung des individuelle Kündigungen betreffenden Konsultationsverfahrens, weshalb die Nichtigkeitsanordnung des § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG den Fall der formwidrigen Einleitung eines Konsultationsverfahrens gerade nicht erfasst. Im Verhältnis zum Betriebsrat bedarf es auch keiner Nichtigkeitsanordnung für Kündigungen. Insoweit genügt ein Verständnis des § 17 Abs. 2 und 3 KSchG dahin, dass der Betriebsrat entweder die formlose Einleitung des Konsultationsverfahrens durch eine abschließende Stellungnahme oder Einigung heilt oder beendende Erklärungen verweigert und damit den die Massenentlassungen ermöglichenden Abschluss des Konsultationsverfahrens verhindert.

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1.2.3.3. Schließlich ist auch keine die Richtlinie 98/59/EG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten über Massenentlassungen (MERL) betreffende richtlinienkonforme Auslegung von § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG dahin geboten, dass die nichtförmliche Einleitung des Konsultationsverfahrens die Nichtigkeit der folgenden Kündigungen nach sich zieht. Die MERL sieht zwar unter Art. 2 Abs. 3 die schriftliche Mitteilung der in § 17 Abs. 2 S. 1 Nrn. 1 – 6 KSchG genannten Punkte vor, jedoch keine bestimmte Sanktion. Die Mitgliedsstaaten haben nach Art. 6 MERL lediglich Verfahren zur Durchsetzung der Verpflichtungen aus der Richtlinie vorzusehen. Insoweit kommt zum einen das Beschlussverfahren in Betracht. Zum anderen genügt auch insoweit ein Verständnis des § 17 Abs. 2 und 3 KSchG dahin, dass der Betriebsrat entweder die formlose Einleitung des Konsultationsverfahrens durch eine abschließende Stellungnahme oder Einigung heilt oder beendende Erklärungen verweigert und damit den die Massenentlassungen ermöglichenden Abschluss des Konsultationsverfahrens verhindert.

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1.2.4. Zwischen den Parteien hat ordnungsgemäß eine Beratung nach § 17 Abs. 2 S. 2 KSchG stattgefunden, die durch Einigung auf den Interessenausgleich und durch Unterzeichnung des Interessenausgleichs ihren Abschluss gefunden hat. Dies ist zwischen den Parteien nicht streitig.

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2. Die Kündigung ist nicht wegen Verstoßes gegen die Pflicht aus § 17 Abs. 3 S.1 KSchG zur Übermittlung einer Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat an die Bundesagentur für Arbeit unwirksam. Insoweit fehlt es an einer ausdrücklichen Rüge in der ersten Instanz (§ 6 S. 1 KSchG). Selbst wenn die Rüge eines Verstoßes gegen § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG die eines Verstoßes gegen § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG umfasste, führte der letztgenannte Verstoß nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung. Die Pflicht nach § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG dient nur der Vorabinformation der Bundesagentur für Arbeit. Entscheidend ist die Anzeige nach § 17 Abs. 1 KSchG, an die § 18 KSchG anknüpft. Die Nichtigkeitsfolge wegen Verletzung einer Pflicht zur Vorabinformation wäre unverhältnismäßig und auch durch die MERL nicht geboten.

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3. Der geltend gemachte Anspruch auf Arbeitsvergütung steht der Klägerin nicht zu, weil das Arbeitsverhältnis wirksam aufgelöst wurde.

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II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs.1 S.1 ZPO i.V.m. § 97 ZPO.

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III. Die Revision ist wegen der höchstrichterlich ungeklärten Folgen von Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit Massenentlassungen zugelassen worden.

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Vorinstanz:

Arbeitsgericht Paderborn, 4 Ca 88/10

Nachinstanz:

Bundesarbeitsgericht, 6 AZR 155/11

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