LAG Niedersachsen – 16 Sa 120/10

Außerordentliche Kündigung – Beleidigung – Abmahnung – Interessenabwägung – Beurteilungszeitpunkt

LAG Niedersachsen, Urteil vom 15.10.2010, 16 Sa 120/10

Leitsätze

  1. Bei der Beurteilung, ob eine vorherige Abmahnung erforderlich ist, sind beidseitige Verstöße gegen vertragliche Rücksichtnahmepflichten gegeneinander abzuwägen.
  2. Bezeichnet ein Verwaltungsmitarbeiter der Gemeinde die Bürgermeisterin in einem offenen und zur Veröffentlichung in der Presse bestimmten Brief als "inkompetent", so  kann dieses ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung sein.
  3. Ein wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung muss spätestens im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung vorliegen.

Tenor

  1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 23. Dezember 2009, Az. 3 Ca 511/09, wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.
  2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer fristlosen Kündigung.

Der 1958 geborene Kläger war seit dem 13. Januar 1993 als Leiter der Gemeindeverwaltung der Beklagten gemäß Arbeitsvertrag vom 13. Januar 1993, zu dessen Inhalt auf Blatt 12 bis 13 der Akte Bezug genommen wird, beschäftigt. Am 07. Oktober 1999 wurde er zum allgemeinen Vertreter des Bürgermeisters gemäß § 61 Abs. 7 NGO ernannt. Neben dem Kläger waren bis Mitte 2005 zwei weitere Arbeitnehmer bei der Beklagten beschäftigt. Von Anfang 2006 bis Anfang 2008 war der Kläger der einzige Verwaltungsmitarbeiter der Beklagten.

Vom 29. Januar 2008 bis 15. April 2009 war der Kläger arbeitsunfähig erkrankt. Ab dem 15. April 2009 erfolgte eine stufenweise Wiedereingliederung. Die Verwaltung der Beklagten verfügt nur über zwei Räume mit je einem Schreibtisch nebst PC. Das Büro, das der Kläger bis zum Beginn seiner Erkrankung nutzte, wurde der zur Vertretung des Klägers angestellten Frau A. zur Verfügung gestellt, die wöchentlich 30 bis 40 Stunden tätig ist. Das andere Büro wurde von einer 400-Euro-Kraft genutzt, die nur stundenweise anwesend war. Diesen Schreibtisch sollte sich der Kläger für die Zeit der Wiedereingliederung mit der 400-Euro-Kraft teilen. Die Wiedereingliederung war zunächst mit zwei Arbeitsstunden täglich angesetzt und sollte sukzessiv erhöht werden.

Mit Schreiben vom 07. Juni 2009 erteilte die Beklagte dem Kläger eine Abmahnung, die Gegenstand eines vor dem Arbeitsgericht Braunschweig zum Az. 7 Ca 217/09 anhängigen Rechtsstreits ist. Dort streiten die Parteien darum, ob dem Kläger durch die Bürgermeisterin der Beklagten ein Gleittag genehmigt wurde. Im Rahmen einer mündlichen Verhandlung vor dem Arbeitsgericht Braunschweig fand eine Erörterung der Gegenstände des Verfahrens statt.

Vom 18. Juni 2009 bis 09. September 2009 befand sich der Kläger im Erholungsurlaub. Unter dem 18. August 2009 schlug die Bürgermeisterin einen Beschluss des Rates vor, die Beauftragung des Klägers mit der allgemeinen Vertretung zu widerrufen, und führte zur Begründung das Verhalten des Klägers während seiner Wiedereingliederung an. Zum weiteren Inhalt des Beschlussvorschlags wird Bezug genommen auf Blatt 16 der Akte. Die Sitzung des Rates war angekündigt für den 20. August 2009. Der Kläger erhielt hierzu keine Einladung. Er erfuhr von der Sitzung aus der Lokalpresse mit Auflistung der Tagesordnung im Gemeindeblatt vom 10. August 2009. Er verfasste unter dem 16. August 2009 einen offenen Brief an die Ratsmitglieder der Beklagten, zu dessen Inhalt auf Blatt 17 bis 18 der Akte Bezug genommen wird. Unter anderem führte er dort aus:

„Ich stelle die Inkompetenz von Frau B. bezüglich des Umgangs mit Mitarbeitern fest, diesen Falls in dem Umgang mit ihrem allgemeinen Vertreter.“

Der Kläger versandte eine E-Mail an das C. Kreisblatt, zu deren Inhalt auf Blatt 113 der Akte Bezug genommen wird. Als Anlage übersandte er den offenen Brief vom 16. August 2009 und bat um rechtzeitige Veröffentlichung. Am 19. August 2009 erschien ein Artikel in der D-Zeitung, zu dessen Inhalt auf Blatt 19 der Akte Bezug genommen wird. Die D-Zeitung hatte den Kläger kontaktiert und über den Antrag auf Widerruf seiner Beauftragung als allgemeinen Vertreter befragt. Der Kläger beantwortete die ihm gestellten Fragen.

Am 20. August 2009 tagte der Verwaltungsausschuss der Beklagten und beschloss die fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers. Ebenfalls am 20. August 2009 erhielt der Kläger eine Einladung zu einer Ratssitzung vom 24. August 2009 zum Tagesordnungspunkt „Antrag auf Widerruf der Beauftragung des allgemeinen Vertreters“.

Mit Schreiben vom 26. August 2009 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers fristlos. Gegen die Wirksamkeit dieser Kündigung wendet sich der Kläger mit der am 11. September 2009 beim Arbeitsgericht Braunschweig eingegangen Kündigungsschutzklage.

Der Kläger hat vorgetragen, die Formulierungen im Presseartikel nicht veranlasst zu haben. Er habe der Presse den offenen Brief zukommen zu lassen, um sicherzugehen, dass es sich um den richtigen Brief handele. Wegen der fehlenden Information durch die Bürgermeisterin sei er gezwungen gewesen, die Ratsmitglieder vor Abwahl kurzfristig und vollständig zu erreichen, um zum Abwahlantrag Stellung nehmen zu können.

Der Kläger hat beantragt,

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die außerordentliche Kündigung vom 26. August 2009, zugegangen am 26. August 2009, nicht aufgelöst worden ist.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat ausgeführt, die mit dem Artikel in der D-Zeitung vom 19. August 2009 erhobenen schweren Vorwürfe hätten das Vertrauen der Beklagten in den Kläger zerstört. Die Streitpunkte des Verfahrens vor dem Arbeitsgericht Braunschweig Az. 7 Ca 217/09 seien noch nicht entschieden. Der Hinweis, die Bürgermeisterin hätte den Gleittag selbst genehmigt, sei schon aus Sicht des Klägers zu diesem Zeitpunkt falsch gewesen. Der Kläger habe gegenüber der Presse seine rechthaberische Streithaltung bekräftigt, nach dem Vorwurf der Dienstpflichtverletzung sei er nicht mehr bereit, seine Urlaubsansprüche wie zunächst angeboten aufzuschieben. In der Erklärung, er habe in der Wiedereingliederung nicht einmal einen eigenen Arbeitsplatz gehabt, liege der deutliche Vorwurf gegenüber der Beklagten, sie verwirkliche den Wiedereingliederungsplan nicht. Die Äußerung des Klägers in dem offenen Brief vom 16. August 2009 „Nur scheint Frau B. mit meiner ehrlichen Arbeit nicht umgehen zu können, anders kann ich ihr Verhalten nicht deuten.“ zwinge zu dem Schluss, die Bürgermeisterin könne allgemein nicht mit ehrlicher Arbeit umgehen.

Es sei unerheblich, ob der Kläger die D-Zeitung zuerst angesprochen habe. Jedenfalls habe er den Anlass für den Artikel gegeben. Er habe die Öffentlichkeit gewollt und gezielt gesucht; das ergebe sich bereits daraus, dass sein Brief vom 16. August 2009 „offen“ sei. Dem Kläger seien auch die Überschrift und der Inhalt des Artikels der D-Zeitung zuzurechnen. Der Vorwurf des Klägers in der Presse, die Beklagte habe ihm zu Beginn der Wiedereingliederung keinen eigenen Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt, sei angesichts der Bürosituation der Beklagten und des Einsatzes der Vertretungskraft nicht einmal die halbe Wahrheit. Um die Beklagte bzw. deren Bürgermeisterin nicht öffentlich herabzusetzen, hätte der Kläger nicht verschweigen dürfen, dass er sich einen Arbeitsplatz mit der 400-Euro-Kraft habe teilen können.

Die Vorwürfe im offenen Brief seien nicht durch das Recht des Klägers auf Meinungs-äußerungen gedeckt. Er habe die arbeitsvertragliche Rücksichtnahmepflicht damit grob verletzt. Der insgesamt höhnische Unterton und die gestellten Scheinfragen seien nicht akzeptabel. Die Äußerungen, die Bürgermeisterin habe eine Abmahnung „konstruiert“, sei nicht mehr von einer berechtigten Interessenwahrnehmung gedeckt. Der Kläger habe zum Zeitpunkt der Versendung des offenen Briefes aufgrund des Aktenvermerks der Frau A. vom 19. Mai 2009 und des Ergebnisses der Güteverhandlung im Parallelverfahren gewusst, dass die Beklagte bestreite, die Bürgermeisterin habe dem Kläger einen Gleittag genehmigt, und insoweit allenfalls ein Missverständnis vorliegen könne.

Mit Urteil vom 23. Dezember 2009 hat das Arbeitsgericht Braunschweig der Klage stattgegeben. Es hat ausgeführt, es fehle an einem wichtigen Grund nach § 626 BGB. In dem Artikel der D-Zeitung vom 19. August 2009 fänden sich keine groben Beleidigungen oder erhebliche Ehrverletzungen. Auch der offene Brief vom 16. August 2009 sei nicht beleidigend oder gar diffamierend gegenüber der Bürgermeisterin. Zum weiteren Inhalt des Urteils wird Bezug genommen auf Blatt 121 bis 137 der Akte.

Das Urteil ist dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten am 04. Januar 2010 zugestellt worden. Mit Schriftsatz vom 28. Januar 2010, beim Landesarbeitsgericht Niedersachsen eingegangen am 28. Januar 2010 vorab per Telefax, hat die Beklagte gegen das Urteil Berufung eingelegt und sie mit ihrem am 02. März 2010 beim Landesarbeitsgericht Niedersachsen eingegangenen Schriftsatz begründet.

Unter Bezugnahme auf den erstinstanzlichen Vortrag führt die Beklagte weiter aus, mit den Fragen im offenen Brief „Hatte sie weiter vielleicht auch vergessen den VA in dieses Verfahren einzubeziehen und den Gemeinderat zu informieren? Oder beabsichtigte sie vorher noch die Angelegenheit abzuschließen, bevor alle Informationen bei den Entscheidungsträgern angelangt wären?“, unterstelle der Kläger der Bürgermeisterin ohne Angaben konkreter Tatsachen, an dem Verwaltungsausschuss und dem Rat zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen vorbei zu arbeiten. Der unberechtigte Vorwurf der Amts-überschreitung stelle eine schwere Anschuldigung dar, die im höchstem Maße geeignet sei, dem Ruf und dem Ansehen der Bürgermeisterin zu schaden, und zugleich tief ehrverletzend. Dass die Äußerungen des Klägers im zeitlichen Zusammenhang mit dem beabsichtigten Widerruf seiner Bestellung zum allgemeinen Vertreter erfolgt seien, ändere nichts daran, dass der Kläger in schwerwiegender Weise seine arbeitsvertraglichen Pflichten verletzt habe. Der Unmut über den beabsichtigten Widerruf der Stellung als allgemeiner Vertreter rechtfertige die vom Kläger an den Tag gelegte Verhaltensweise nicht. Auch die gebotene Interessenabwägung führe nicht zu einer Unwirksamkeit der von der Beklagten ausgesprochenen außerordentlichen Kündigung. Der Beschäftigungszeit des Klägers seit 1993 stehe die Weiterleitung des Briefes an die Presse, der polemische Tonfall und die darin enthaltenen Vorwürfe der Inkompetenz, der arbeitsrechtlichen Gängelung und die Unterstellung der Amtsüberschreitung entgegen und wögen so schwer, dass das notwendige Vertrauen in den Kläger unwiderruflich zerstört sei.

Der Ausspruch einer Abmahnung durch die Beklagte sei nicht erforderlich gewesen, da dem Kläger die Pflichtwidrigkeit seines Handelns ohne weiteres erkennbar gewesen sei.

Auch das Einreichen des Leserbriefes der Frau E. vom 09. September 2009 (Blatt 103 der Akte) mit dem Schriftsatz vom 10. Dezember 2009 verbunden mit dem Hinweis, dass der Brief die Arbeits- und Vorgehensweise der Bürgermeisterin darstelle, mache deutlich, dass eine Wiederherstellung des Vertrauensverhältnisses zwischen den Parteien unmöglich sei und der Ausspruch einer Abmahnung sinnlos.

Weiter führt die Beklagte aus, hilfsweise sei das Arbeitsverhältnis durch die ausgesprochene Kündigung zum 31. März 2010 beendet worden, da eine Umdeutung in eine außer-ordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist zulässig sei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 23. Dezember 2009

– 3 Ca 511/09 – abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angegriffene Urteil nach Maßgabe seiner Berufungserwiderung vom 4. Mai 2010.

Zum weiteren Parteivortrag sowie den Hinweisen des Gerichts wird Bezug genommen auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 15. Oktober 2010 sowie die gewechselten Schriftsätze der Parteien.

Entscheidungsgründe

I.

Die Berufung der Beklagten bleibt erfolglos.

Die Berufung ist gemäß §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 1 und 2 ArbGG statthaft, nach § 66 Abs. 1 und 2 ArbGG, §§ 519, 520 Abs. 1 und 3 ZPO frist- und formgerecht eingelegt und damit insgesamt zulässig. Sie jedoch nicht begründet. Die Kündigung vom 26. August 2009 hat das Arbeitsverhältnis weder fristlos noch mit sozialer Auslauffrist aufgelöst.

1.

Mit Eingang der Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht Braunschweig am 11. September 2009 hat der Kläger die Kündigung vom 26. August 2009 fristgerecht gemäß §§ 4, 7, 13 KSchG angegriffen.

2.

Die Voraussetzungen des § 626 Abs. 1 BGB liegen nicht vor.

a)

Nach § 626 Abs. 1 BGB ist ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung gegeben, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung nicht zugemutet werden kann. Ist etwa bei einer längeren Kündigungsfrist dem Kündigenden die Weiterbeschäftigung des Betreffenden zwar für eine gewisse Übergangszeit zumutbar, ist es aber unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile jedenfalls unzumutbar, den Betreffenden bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zur vereinbarten Beendigung des Arbeitsverhältnisses weiterzubeschäftigen, liegt nach dem Wortlaut des § 626 Abs. 1 BGB ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung vor (BAG vom 13. April 2000 – 2 AZR 259/99 – DB 2000, S. 1819-1822). Eine außerordentliche Kündigung ist nur als ultima ratio möglich; alle anderen, nach den jeweiligen Umständen möglichen und milderen Mittel müssen erschöpft sein (BAG vom 30. Mai 1978 – 2 AZR 630/76 – AP Nr. 70 zu § 626 BGB = EzA § 626 n.F. BGB Nr. 66). Ein wichtiger Grund zur Kündigung nach § 626 Abs. 1 BGB gegenüber tariflich unkündbaren Arbeitnehmern kann auch dann vorliegen, wenn dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung des Betreffenden zwar für die Dauer einer ordentlichen Kündigungsfrist entsprechenden Auslauffrist zumutbar, die Weiterbeschäftigung darüber hinaus (ggf. bis zur Erreichung des Pensionsalters) aber unzumutbar ist. § 626 Abs. 1 BGB setzt nicht ausnahmslos voraus, dass schon im Kündigungszeitpunkt eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers unzumutbar sein muss (BAG vom 13. April 2000 a.a.O.).

Eine schwere, insbesondere schuldhafte Vertragspflichtverletzung kann die außerordentliche Kündigung eines Arbeitsverhältnisses aus wichtigem Grund an sich rechtfertigen. Dabei kann ein wichtiger Grund an sich nicht nur in einer erheblichen Verletzung der vertraglichen Hauptleistungspflichten liegen. Auch die erhebliche Verletzung von vertraglichen Nebenpflichten kann ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung sein (BAG vom 19. April 2007 – 2 AZR 78/06 – AP Nr. 77 zu § 611 BGB Direktionsrecht = ZTR 2007, S. 564-566). Wendet sich ein Arbeitnehmer an die Presse, um nicht gerechtfertigte Forderungen gegen den Arbeitgeber durchzusetzen, kann darin ein zur fristlosen Kündigung berechtigendes nötigendes Verhalten liegen (LAG Niedersachsen vom 12. März 2010 – 10 Sa 675/09 – juris; vgl. BAG vom 11. März 1999 – 2 AZR 507/98 – AP § 626 BGB Nr. 149 = EzA § 626 BGB n.F. Nr. 176). Grobe Beleidigungen des Arbeitgebers oder seiner Vertreter und Repräsentanten, die nach Form und Inhalt eine erhebliche Ehrverletzung für die Betroffenen bedeuten, sind geeignet, einen Verstoß des Arbeitnehmers gegen seine Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis darzustellen und eine außerordentliche fristlose Kündigung an sich zu rechtfertigen. Die strafrechtliche Beurteilung ist kündigungsrechtlich nicht ausschlaggebend. „Grob“ ist eine besonders schwere, den Betroffenen kränkende Beleidigung, d. h. eine bewusste und gewollte Ehrenkränkung aus gehässigen Motiven (LAG Niedersachsen vom 12. März 2010 a.a.O.; vgl. BAG vom 01. Juli 1999 – 2 AZR 676/98 – AP BBiG § 15 Nr. 11 = EzA BBiG § 15 Nr. 13).

Als verletzte Vertragspflicht kommt im Arbeitsverhältnis eine Verletzung der Rücksichtnahmepflicht in Betracht. Die Vertragspartner sind zur Rücksichtnahme und zum Schutz bzw. zur Förderung des Vertragszwecks verpflichtet. Bei der Konkretisierung der in Betracht kommenden Verletzung der Rücksichtnahmepflicht (§ 241 Abs. 2 BGB) sind die grundrechtlichen Rahmenbedingungen, insbesondere das Grundrecht auf Meinungsfreiheit zu beachten. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Artikel 5 Abs. 1 GG ist für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierend. Es gewährleistet eine der wesentlichen Äußerungsformen der menschlichen Persönlichkeit. Aufgrund seiner großen Bedeutung ist seine Berücksichtigung jeweils im Rahmen des Möglichen geboten. Mit der überragenden Bedeutung des Grundrechts aus Artikel 5 Abs. 1 GG wäre es unvereinbar, wenn das Grundrecht in der betrieblichen Arbeitswelt, die für die Lebensgrundlage zahlreicher Staatsbürger wesentlich bestimmend ist, gar nicht oder nur eingeschränkt anwendbar wäre. Dabei besteht der Grundrechtschutz unabhängig davon, ob eine Äußerung rational oder emotional, begründet oder grundlos ist, und ob sie von Anderen für nützlich oder schädlich, wertlos oder wertvoll gehalten wird. Der Grundrechtschutz bezieht sich sowohl auf den Inhalt als auch auf die Form der Äußerung. Auch eine polemische oder verletzende Formulierung entzieht einer Äußerung noch nicht den Schutz der Meinungsfreiheit. Allerdings wird das Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Artikel 5 Abs. 1 GG nicht schrankenlos gewährt, sondern durch allgemeine Gesetze und das Recht der persönlichen Ehre gemäß Artikel 5 Abs. 2 GG beschränkt und muss in ein ausgeglichenes Verhältnis mit diesem gebracht werden. Die Verfassung gibt das Ergebnis einer solchen Abwägung nicht vor. Unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ist eine Abwägung zwischen den Belangen der Meinungsfreiheit und den Rechtsgütern, in deren Interesse das Grundrecht der Meinungsfreiheit eingeschränkt werden soll, vorzunehmen. Dabei wird das Grundrecht der Meinungsfreiheit regelmäßig zurücktreten müssen, wenn sich die Äußerung als Angriff auf die Menschenwürde oder als eine Formalbeleidigung oder eine Schmähung darstellt. Ansonsten kommt es für die Abwägung zwischen der Bedeutung der Meinungsfreiheit und dem Recht des durch die Meinungsfreiheit beeinträchtigten Rechtsguts auf die Schwere der Beeinträchtigung des betroffenen Rechtsguts an (BAG vom 24. Juni 2004 – 2 AZR 63/03 – NJW 2005, S. 619-622).

Gemessen an diesen Grundsätzen stellt sich das Verhalten des Klägers als grundsätzlich kündigungsgeeignet im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB dar. Mit der Weiterleitung des offenen Briefes vom 16. August 2009 an das C. Kreisblatt mit der Bitte um Veröffentlichung hat er die Rücksichtnahmepflicht gegenüber seinem Arbeitgeber in Person der Bürgermeisterin schuldhaft verletzt. Die öffentliche Bezeichnung der Bürgermeisterin im Umgang mit Mitarbeitern als "inkompetent" und die Bezichtigung, sie könne mit der ehrlichen Arbeit des Klägers nicht umgehen, ist von dem Grundrecht des Klägers auf freie Meinungsäußerung nicht mehr gedeckt. Auch angesichts der bestehenden arbeitsrechtlichen Konflikte zwischen den Parteien und dem Versuch der Bürgermeisterin, den Kläger als allgemeinen Vertreter ohne sein Wissen in seinem Urlaub abwählen zu lassen, stellen die Äußerungen in dem offenen Brief einen erheblichen Verstoß des Klägers gegen die ihm obliegenden Loyalitätspflichten im Arbeitsverhältnis dar. Dabei kann seine Position als allgemeiner Vertreter, zu deren Wahrung er den offenen Brief verfasst hat, nicht von den ihm im Arbeitsverhältnis zur Beklagten obliegenden Rücksichtnahmepflichten getrennt werden. Das tut auch der Kläger selbst mit seinem offenen Brief vom 16. August 2009 nicht, in dem er Bezug auf den zwischen den Parteien noch schwebenden Rechtsstreit vor dem Arbeitsgericht Braunschweig nimmt.

Hingegen stellen die im Artikel der D-Zeitung vom 19. August 2009 zitierten Äußerungen des Klägers keinen wichtigen Grund nach § 626 Abs. 1 BGB dar. Entgegen der Auffassung der Beklagten sind die dort aufgeführten Überschriften dem Kläger nicht zuzurechnen, da er sie nicht selbst formuliert hat. Die Überschriften sind nicht die zitierten, vom Kläger tatsächlich abgegebenen Äußerungen. Die im Artikel zitierten Äußerungen des Klägers sind jedenfalls nicht bewusst wahrheitswidrig.

Dem steht das Bestreiten der Beklagten, die Bürgermeisterin habe den Gleittag dem Kläger nicht genehmigt, nicht entgegen. Die Beklagte räumt selbst ein, es könne sich hierbei um ein Missverständnis gehandelt haben. Dass dem Kläger bewusst war, eine Genehmigung der Bürgermeisterin liege nicht vor, folgt daraus nicht. Objektiv nicht wahrheitswidrig ist die Äußerung des Klägers gegenüber der D-Zeitung, in seiner Wiedereingliederung habe er nicht einmal einen eigenen Arbeitsplatz gehabt. Unstreitig war das ursprüngliche Büro des Klägers von seiner Vertreterin Frau A. besetzt, und der Kläger musste sich einen Arbeitsplatz mit der weiteren 400-Euro-Kraft der Beklagten teilen. Einen eigenen Arbeitsplatz, der nur ihm selbst zur Verfügung stand, hatte er auch nach dem Vortrag der Beklagten mithin nicht. Der Kläger war auch nicht verpflichtet, der D-Zeitung mitzuteilen, dass die Beklagte ihm den mit der 400-Euro-Kraft zu teilenden Arbeitsplatz zur Verfügung stellte. Die Äußerungen des Klägers stellen erkennbar keinen objektiven Bericht über seine Arbeitssituation dar, sondern eine vehemente Kritik.

b)

Dennoch ist das Verhalten des Klägers wegen Fehlens einer einschlägigen Abmahnung nicht geeignet, eine außerordentliche Kündigung, sei es fristlos oder mit sozialer Auslauffrist zu rechtfertigen.

Eine außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund ist bei einer schwerwiegenden Vertragspflichtverletzung nur möglich, wenn alle anderen, nach den jeweiligen Umständen möglichen und angemessenen milderen Mittel erschöpft sind, und das in der bisherigen Form belastete Arbeitsverhältnis aufgrund der eingetretenen Vertragsstörung in der Zukunft nicht mehr fortgesetzt werden kann. Als milderes Mittel kommt insbesondere der Ausspruch einer Abmahnung in Betracht. Der grundsätzliche Vorrang der Abmahnung vor einer verhaltensbedingten Kündigung ist Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (vgl.§ 314 Abs. 2 BGB). Die Abmahnung ist zudem notwendiger Bestandteil für die Anwendung des Prognoseprinzips. Eine vorherige Abmahnung ist unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur ausnahmsweise entbehrlich, wenn eine Verhaltensänderung in Zukunft trotz Abmahnung nicht erwartet werden kann oder es sich um eine solch schwere Pflichtverletzung handelt, deren Rechtswidrigkeit dem Arbeitnehmer ohne weiteres erkennbar ist, und bei der die Hinnahme des Verhaltens durch den Arbeitgeber offensichtlich ausgeschlossen ist (BAG vom 23. Oktober 2008 – 2 AZR 483/07 – BB 2009, S. 1186-1190). Eine einschlägige Abmahnung, mit der die Verletzung von Loyalitäts- und Rücksichtnahmepflichten gegenüber dem Arbeitgeber gerügt wird, liegt nicht vor.

Die Pflichtwidrigkeit des Klägers wiegt nicht so schwer, dass eine Hinnahme des Verhaltens durch die Beklagte offensichtlich ausgeschlossen ist und eine Verhaltensänderung in Zukunft trotz Abmahnung nicht erwartet werden kann. Bei der Verletzung der Rücksichtnahmepflichten durch den offenen Brief und die Äußerungen im Artikel vom 19. August 2009 in Bezug auf die Inkompetenz der Bürgermeisterin war die Rechtswidrigkeit dem Kläger auch in seiner Eigenschaft als Verwaltungsleiter nicht ohne weiteres erkennbar, die Hinnahme des Verhaltens durch die Beklagte nicht offensichtlich ausgeschlossen. Zunächst ist zu berücksichtigen, dass auch die Bürgermeisterin der Beklagten sich gegenüber dem Kläger zumindest in seiner Eigenschaft als ihrem allgemeinen Vertreter ebenfalls illoyal verhalten hat, indem sie versucht hat, seine Abwahl während seines Urlaubs durchzusetzen, ohne ihn zu informieren. Auch hierin liegt eine erhebliche Verletzung der vertraglichen Rücksichtnahmepflicht. Bei einem solchen Verhalten der Bürgermeisterin war dem Kläger nicht ohne weiteres erkennbar, dass die Verletzung von Rücksichtnahmepflichten durch die gewählten Äußerungen in der Öffentlichkeit vom Arbeitgeber offensichtlich nicht hingenommen wird. Die Anrufung der Ratsmitglieder durch den Kläger war am 16. August 2009 die einzige Möglichkeit, vor seiner für den 20. August 2009 geplanten Abwahl Stellung zu beziehen. Dabei hat er auch nicht versucht, ungerechtfertigte Forderungen gegenüber der Beklagten durchzusetzen. Die Möglichkeit zur Stellungnahme stand ihm zu.

Weder die Erwähnung des vor dem Arbeitsgericht Braunschweig schwebenden weiteren Rechtsstreits zwischen den Parteien noch die Fragen des Klägers, ob die Bürgermeisterin vergessen habe, den Gleittag selbst genehmigt zu haben und den Verwaltungsausschuss einzubeziehen sowie den Gemeinderat zu informieren, lässt annehmen, dass der Kläger trotz entsprechender Abmahnung ein solches Verhalten in Zukunft wiederholen wird. Bewusst wahrheitswidrige Behauptungen hat der Kläger nicht aufgestellt. Das gilt insbesondere für seine Frage, ob die Bürgermeisterin den Gleittag selbst genehmigt hatte (s. o.). Dass dem Kläger positiv bekannt war, dass die Bürgermeisterin den Verwaltungsausschuss in ein etwaiges Abmahnungsverfahren einbezogen und den Gemeinderat informiert hatte, trägt auch die Beklagte nicht vor. Die Erwähnung des zwischen den Parteien schwebenden weiteren Rechtsstreits vor dem Arbeitsgericht Braunschweig begründet ebenfalls keine Entbehrlichkeit der Abmahnung, da der Kläger hier keine Verschwiegenheitspflichten verletzt hat.

Etwas anderes folgt nicht aus der Bezugnahme der Prozessbevollmächtigten des Klägers im Schriftsatz vom 10. Dezember 2009 auf den Leserbrief vom 09. September 2009 (Bl. 103 d. A.). Äußerungen des Prozessbevollmächtigten des Arbeitgebers im Kündigungsschutzprozess können dem Arbeitnehmer zuzurechnen sein, wenn er sich diese zu eigen macht oder sich nachträglich nicht von ihnen distanziert (vgl. BAG vom 23. Februar 2010 – 2 AZR 554/08 – BB 2010, S. 2376-2378). Die Äußerungen der Prozessbevollmächtigten des Klägers aus dem Schriftsatz vom 10. Dezember 2009 können jedoch zur Rechtfertigung der Kündigung vom 26. August 2009 nicht herangezogen werden. Eine außerordentliche Kündigung kann auf alle Gründe gestützt werden, die zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung bereits objektiv vorhanden waren. Die Prüfung des wichtigen Grundes ist bezogen auf den Zugang der Kündigungserklärung (BAG vom 27. Februar 1997 – 2 AZR 160/96 – NZA 1997, S. 757-760; BAG vom 10. Juni 2010 – 2 AZR 541/09 – juris = EzA-SD 2010, Nr. 13, 3). Tatsachen, die erst nach der Kündigung entstanden sind, etwa weitere Vorfälle der Art, die einen Verdacht strafbarer Handlungen begründen, oder umgekehrt eine Verhaltensänderung des Arbeitnehmers, die erneute Vertrauensstörungen unwahrscheinlich macht, bleiben unberücksichtigt (BAG vom 14. September 1994 – 2 AZR 164/94 – BB 1995, S. 1358-1359; BAG vom 10. Juni 2010 – 2 AZR 541/09 – juris = EzA-SD 2010, Nr. 13, 3).

Bei der Bezugnahme auf den Leserbrief vom 09. September 2009 im Schriftsatz vom 10. Dezember 2009 handelt es sich nicht lediglich um eine nach Zugang der Kündigung gewonnene neue Erkenntnis der Beklagten, sondern um eine erst danach entstandene objektive Tatsache.

c)

Schließlich führt die Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und die Abwägung der Interessen der Parteien zur Unwirksamkeit der außerordentlichen, hilfsweise außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist.

Zu Lasten des Klägers und zu Gunsten der Beklagten ist zu berücksichtigen, dass die herabwürdigenden und polemischen Äußerungen in Bezug auf die Bürgermeisterin vom Kläger in die Öffentlichkeit getragen wurden. Weiter ist zu seinen Lasten die Position als Verwaltungsleiter mit insoweit bestehender besonderer Vertrauensstellung zu berücksichtigen.

Erheblich zu seinen Gunsten wirkt sich die Dienststellenzugehörigkeit von 16 Jahren und sein Lebensalter von 50 Jahren zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs aus. Das Lebensalter des Klägers macht es ihm schwer, einen vergleichbaren Arbeitsplatz zu finden. Weiter wirkt sich erheblich zu seinen Gunsten das Verhalten der Bürgermeisterin im Zusammenhang mit der eingeleiteten Abwahl als allgemeinen Vertreter aus. Die in seinem Urlaub eingeleitete Abwahl ohne entsprechende Information des Klägers und Möglichkeit zur Verteidigung seiner Position hat ein Verhalten des Klägers herausgefordert, mit dem er sich diesem Ansinnen – auch auf politischer Ebene – zur Wehr setzen durfte. Aufgrund der Kürze der Zeit bis zur zunächst geplanten Ratssitzung hatte er keine andere Möglichkeit, als sich hierzu direkt an die Ratsmitglieder zu wenden. Dies hat er auch getan, wenn auch in einer die Rücksichtnahmepflichten verletzenden Art und Weise (s. o.).

3.

Eine Umdeutung der fristlos ausgesprochenen Kündigung vom 26. August 2009 in eine fristgemäße gemäß § 140 BGB ist nicht möglich.

Das Arbeitsverhältnis ist aufgrund der Beschäftigungszeit des Klägers von mehr als 15 Jahren und seines Lebensalters von mehr als 40 Jahren zum Kündigungszeitpunkt nach §§ 53 – 55 BAT, § 2 des Arbeitsvertrages, § 34 Abs. 2 TVöD, § 2 TVÜ-VKA nur noch aus wichtigem Grund kündbar.

Die Anwendung dieser Vorschriften auf das Arbeitsverhältnis des Klägers ist nicht wegen seiner Beschäftigung als Verwaltungsleiter nach § 1 Abs. 2 a) TVöD ausgeschlossen. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger leitender Angestellter im Sinne des § 5 Abs. 3 BetrVG war, bestehen nicht.

Der Begriff des wichtigen Grundes nach §§ 53 – 55 BAT, § 34 Abs. 2 TVöD entspricht dem des wichtigen Grundes nach § 626 Abs. 1 BGB (ständige Rechtsprechung des BAG zu §§ 53 – 55 BAT, z.B. BAG vom 17. Mai 1984 – 2 AZR 161/83 – AP § 55 BAT Nr. 3 = EzA BAT Nr. 1; zu § 34 Abs. 2 TVöD: BAG vom 26. November 2009 – 2 AZR 272/08 – NZA 2010, S. 628-633).

Ein wichtiger Grund nach § 626 Abs. 1 BGB liegt nicht vor (s.o. 2.).

II.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO, § 46 Abs. 2 ArbGG.

III.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

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