Kündigungsschutzklage – nachträgliche Zulassung – Klageerhebungsfrist
Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25.01.2012, 15 Sa 1873/11
Tenor
I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 12.08.2011 – 28 Ca 9265/11 – abgeändert:
Der Antrag auf nachträgliche Klagezulassung wird zurückgewiesen.
II. Die Kostenentscheidung, auch hinsichtlich des hiesigen Berufungsverfahrens, bleibt dem arbeitsgerichtlichen Schlussurteil vorbehalten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Die Parteien streiten im Rahmen einer Zwischenentscheidung darüber, ob eine verspätet eingegangene Kündigungsschutzklage nachträglich zuzulassen ist.
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Hinsichtlich des unstreitigen Sachverhaltes und des Vorbringens der Parteien in der I. Instanz wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils verwiesen.
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Mit Zwischenurteil vom 12. August 2011 hat das Arbeitsgericht Berlin die Kündigungsschutzklage nachträglich zugelassen. Im bewussten Gegensatz zur Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hat es angenommen, dass ein Verschulden eines Bevollmächtigten an der Versäumung der gesetzlichen Klagefrist bei einer Kündigungsschutzklage dem klagenden Arbeitnehmer nach § 85 Abs. 2 ZPO nicht zuzurechnen ist. Im Übrigen liege ein Verschulden der Prozessbevollmächtigten der Klägerin nicht vor. Die Verschuldensfähigkeit von Rechtsanwalt Sch. sei angesichts der von der Klägerin glaubhaft gemachten Auffälligkeiten schon in den Tagen vor dem Zusammenbruch ausgeschlossen. Auch für die Zeitspanne zwischen dem Ausfall von Rechtsanwalt Sch. (31.05.2011) bis zum Ablauf der Klagefrist am 8. Juni 2011 könne ein Verschulden nicht festgestellt werden. Die übrigen Teilhaber der Sozietät hätten ihre Sorgfaltspflichten nicht verletzt. Dies ergebe sich schon daraus, dass das Kündigungsschreiben des Beklagten sich in einer anderen Akte eines anderen Rechtsstreits befunden hatte. Bei einer solchen „Tarnung“ sei nicht ohne weiteres anzusehen gewesen, dass sich hierin ein Kündigungsschutzmandat verkörpert habe.
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Dieses Urteil ist dem Beklagten am 6. September 2011 zugestellt worden. Die Berufung ging am 14. September 2011 beim Landesarbeitsgericht ein. Nach Verlängerung bis zum 7. Dezember 2011 erfolgte die Berufungsbegründung am 5. Dezember 2011.
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Der Beklagte ist der Ansicht, § 85 Abs. 2 ZPO käme zur Anwendung. Es liege auch ein Verschulden der Bevollmächtigten der Klägerin vor. Rechtsanwalt Sch. sei am 23. Mai 2011 schuldfähig gewesen. Dies ergebe sich schon daraus, dass er am Straßenverkehr teilgenommen und Besprechungen durchgeführt habe. Ihm falle auch ein Organisationsverschulden zur Last. Bei einer sich abzeichnenden Krankheit hätte er für die Möglichkeit, plötzlich auszufallen, Vorsorge treffen müssen. Auch die übrigen Mitglieder der Sozietät hätten sorgfaltswidrig gehandelt. Diese hätten bei entsprechender Kenntnis des Krankheitszustandes die Akten an sich ziehen müssen. Auch sei es kein Entschuldigungsgrund, dass das Kündigungsschreiben in einer falschen Akte abgelegt gewesen ist.
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Der Beklagte beantragt,
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das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 12. August 2011 (28 Ca 9265/11) abzuändern und den Antrag auf nachträgliche Klagezulassung zurückzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Die Klägerin hält das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin für zutreffend. Rechtsanwalt Sch. hätte aufgrund seines Gesundheitszustandes Vorkehrungen nicht mehr treffen können. Bezogen auf die übrigen Sozietätsmitglieder liege ein Verschulden nicht vor. Ihnen hätte schon die Kenntnis gefehlt, dass ihnen von der Klägerin ein entsprechendes Mandat erteilt worden sei. Es könne nicht verlangt werden, dass sämtliche Akten gesichtet und ggf. die jeweiligen Mandanten befragt hätten werden müssen. Sämtliche Akten seien hingegen einer Prüfung auf Fristen unterzogen worden.
Entscheidungsgründe
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Die Berufung des Beklagten hat Erfolg. Insofern war das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin abzuändern und der Antrag auf nachträgliche Klagezulassung zurückzuweisen.
I.
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Die Berufung ist statthaft. Das Arbeitsgericht hatte gem. § 5 Abs. 4 Satz 2 KSchG die Verhandlung und Entscheidung zunächst auf den Antrag über die nachträgliche Klagezulassung beschränkt. Das entsprechende Zwischenurteil kann wie ein Endurteil angefochten werden (§ 5 Abs. 4 Satz 3 KSchG).
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Die Berufung ist auch zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.
II.
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Die Berufung ist begründet. Der Antrag auf nachträgliche Zulassung ist zurückzuweisen. Es liegt ein Verschulden von Rechtsanwalt Sch. vor (1.). Auch die übrigen Sozietätsmitglieder haben die ihnen zuzumutende Sorgfaltspflicht verletzt (2.). Diese Pflichtverletzungen sind der Klägerin gem. § 85 Abs. 2 ZPO auch zuzurechnen (3.).
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1. Das Handeln des Prozessbevollmächtigten der Klägerin (Rechtsanwalt Sch.) stellt eine Verletzung der zuzumutenden Sorgfaltspflichten im Sinne des § 5 Abs. 1 Satz 1 KSchG dar.
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Nachdem Rechtsanwalt Sch. am 23. Mai 2011 die Besprechung mit der Klägerin hinsichtlich der Kündigungsschutzklage durchgeführt hatte, hätte er entweder sofort Kündigungsschutzklage erheben oder jedenfalls unter Beachtung der dreiwöchigen Klagefrist eine entsprechende Frist notieren müssen. Beides hat Rechtsanwalt Sch. unterlassen. Diese Pflichtverletzung erfolgte auch schuldhaft. Was anderes ergibt sich nicht aus der eidesstattlichen Versicherung der Rechtsanwalts- und Notariatsfachangestellten C. T. vom 15. Juni 2011 (Bl. 16 f. d. A.). Sie beschreibt Rechtsanwalt Sch. als „gesundheitlich stark angeschlagen“. Hinsichtlich der Symptome bemerkt sie ein stark gerötetes Gesicht, starke Anspannung und ein Bemühen um Haltung. Auch habe Rechtsanwalt Sch. Probleme mit dem Gleichgewichtssinn sowie Schwierigkeiten mit seiner akustischen Wahrnehmung gehabt. Aus diesen Symptomen ergibt sich jedoch im Gegensatz zur Auffassung des Arbeitsgerichts Berlin nicht, dass Rechtsanwalt Sch. zur Abfassung einer einfachen Kündigungsschutzklage oder zur Notierung einer Frist nicht mehr in der Lage war. Beides sind einfache Tätigkeiten. Zu Recht hat der Beklagte auch darauf verwiesen, dass Rechtsanwalt Sch. unstreitig noch am Straßenverkehr teilgenommen und Besprechungen durchgeführt hat. All dies zeigt, dass Rechtsanwalt Sch. auch schwierigere Aufgaben noch bewältigen konnte.
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Selbst wenn man dies anders beurteilen möchte, liegt jedenfalls insofern ein Verschulden von Rechtsanwalt Sch. vor, als er keinerlei Vorsorge dafür getroffen hat, dass er krankheitsbedingt zur Erhebung einer Kündigungsschutzklage oder zur Notierung von Fristen nicht mehr in der Lage ist. Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass ein Rechtsanwalt Vorsorge für den Fall treffen muss, dass sich seine Erkrankung verschlimmert. Er kann sich nicht darauf zurückziehen, dass er die Entwicklung seiner Krankheit günstiger eingeschätzt hätte als sie dem späteren Verlauf tatsächlich entsprach. Derartige Sorgfaltspflichten gelten selbst für Einzelanwälte (BGH, 18.09.2003 – V ZB 23/03 – juris Rn. 3). Angesichts der hier aufgetretenen Symptome hätte Rechtsanwalt Sch. jedenfalls Vorkehrungen dafür treffen müssen, dass er zur ordnungsgemäßen Bearbeitung der Akte der Klägerin plötzlich nicht mehr in der Lage ist. Daran fehlt es. Im schlimmsten Fall hätte er seine Kollegen darauf hinweisen müssen, dass möglicherweise eine entsprechende Entwicklung droht. Auch letzteres ist unterblieben.
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2. Es liegt auch eine Sorgfaltspflichtverletzung der übrigen Sozietätsmitglieder vor. Diese hätten sich nicht damit begnügen dürfen, sämtliche Akten einer Prüfung auf Fristen zu unterziehen. Angesichts der von ihnen vertretenen Rechtsansicht hätten sie vielmehr damit rechnen müssen, dass Rechtsanwalt Sch. die ihm obliegenden Akten nicht mehr mit der erforderlichen Sorgfalt bearbeitet und entsprechende Fristen notiert hat. Sie hätten nach dem gesundheitlichen Zusammenbruch des Kollegen Sch. am 31. Mai 2011 mindestens die Akten durchsehen müssen, die auf seinem Schreibtisch lagen. Sie hätten dann in einer Klarsichthülle eine Kopie des Kündigungsschreibens des Beklagten und die unleserlichen Aufzeichnungen von Rechtsanwalt Sch. finden müssen. Insbesondere weil die Aufzeichnungen von Rechtsanwalt Sch. nach eigener Darstellung unleserlich waren, hätten die übrigen Sozietätsmitglieder nicht davon ausgehen dürfen, dass es sich hier nur um Material für das Verfahren der Klägerin gegen die B. für A. gehandelt hat. Angesichts des Besprechungstermins kurz nach Ausfertigung des Kündigungsschreibens hätte es mehr als nahe gelegen, dass die Klägerin Rechtsanwalt Sch. auch mit der Erhebung einer Kündigungsschutzklage betraut hat, zumal sie ihn in einem anderen Verfahren schon als Verfahrensbevollmächtigten gewählt hatte. Insofern ist es durchaus nahe liegend, dass Mandanten ihre Aufträge bei einem Rechtsanwalt konzentrieren. Etwas anderes hätte allenfalls dann gelten können, wenn sich aus den handschriftlichen Aufzeichnungen von Rechtsanwalt Sch. eindeutige Hinweise darauf ergeben hätten, dass das Kündigungsschreiben nur als Material für das Verfahren gegen die B. für A. anzusehen gewesen wäre. Aber daran fehlt es. Insofern kommt es auch nicht darauf an, dass die anderen Sozietätsmitglieder keine Kenntnis davon gehabt haben, dass ihnen von der Klägerin ein entsprechendes Mandat erteilt worden ist. Üblicherweise werden Mandate nicht nur für einen einzelnen Anwalt, sondern auch für die Mitglieder einer Sozietät erteilt. Gegenteiliges behauptet die Klägerin nicht. Hiervon hätten die Sozietätsmitglieder auch ausgehen müssen.
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Selbst wenn davon auszugehen wäre, dass Rechtsanwalt Sch. aufgrund seines Gesundheitszustandes schon länger nicht mehr in der Lage gewesen war, seine ihn betreffenden Akten ordnungsgemäß zu bearbeiten, dann liegt auch in diesem Fall eine Sorgfaltspflichtverletzung vor. Wenn andere Mitglieder einer Sozietät einen Krankheitszustand eines Kollegen bemerkt haben mussten, dann müssen sie Fristsachen aus eigener Initiative an sich ziehen (BFH, 28.07.1982 – II R 220/81 – juris Rn. 9). Auch daran fehlt es, wobei hinsichtlich der Erkennbarkeit als Fristsache auf die obigen Ausführungen verwiesen wird. Soweit der Klägervertreter im Berufungstermin darauf hingewiesen hat, dass Rechtsanwalt Sch. damals einen zweiten Schlaganfall erlitten hat, kann offen bleiben, ob angesichts dieser wiederholt aufgetretenen Erkrankung die Anforderungen an die Sorgfaltspflichten noch höher hätten angesetzt werden müssen.
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3. Das Verschulden der Bevollmächtigten der Klägerin ist dieser auch zuzurechnen. Dies ergibt sich aus § 85 Abs. 2 ZPO. Danach steht das Verschulden des Bevollmächtigten dem Verschulden der Partei gleich.
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§ 85 Abs. 2 ZPO kommt – im Gegensatz zur Auffassung des Arbeitsgerichts Berlin – auch in einem Verfahren hinsichtlich der nachträglichen Zulassung einer Kündigungsschutzklage zur Anwendung.
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Das Arbeitsgericht Berlin hat eine Anwendung des § 85 Abs. 2 ZPO verneint. Es hat dies im Wesentlichen damit begründet, dass diese Norm auf materiell-rechtliche Fristen nicht angewendet werden dürfe. Es hat insofern darauf verwiesen, dass das Bundesarbeitsgericht selbst jahrelang die Einhaltung der dreiwöchigen Klagefrist bei Kündigungsschutzverfahren als materiell-rechtliche Frist angesehen hat. Insofern ist es durchaus vertretbar, mit dem Arbeitsgericht Berlin weiterhin die Anwendung des § 85 Abs. 2 ZPO zu verneinen. Die hiesige Kammer schließt sich jedoch der Auffassung des Bundesarbeitsgerichts an (BAG, 11.12.2008 – 2 AZR 472/08 – NZA 2009, 692). Die dortige ausführliche Begründung hält die hiesige Kammer für zutreffend. Insofern wird hierauf zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen. Insbesondere teilt die hiesige Kammer die Auffassung des BAG, dass es sich bei Frist des § 4 Satz 1 KSchG um eine prozessuale Klageerhebungsfrist und nicht um eine materiell-rechtliche Frist handelt (BAG, a. a. O., Rn. 26).
III.
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Eine Kostenentscheidung war nicht zu treffen. Diese entfällt bei einem Zwischenurteil (Baumbach u. a. § 303 ZPO Rn. 10). Insofern gelten hier die gleichen Grundsätze wie bei einem Teilurteil. Auch bei einem Teilurteil hat eine Kostenentscheidung grundsätzlich zu unterbleiben (BAG, 18.10.2000 – 2 AZR 465/99 – NZA 2001, 437). Eine Kostenentscheidung ist daher erst möglich, wenn die Verteilung der Kostentragungspflicht bzgl. des gesamten Rechtsstreits endgültig feststeht. Insofern hat das Arbeitsgericht Berlin in seiner Endentscheidung auch hinsichtlich der Kosten des Berufungsverfahrens zu entscheiden.
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Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 72 ArbGG) liegen nicht vor. Insofern ist ein Rechtsmittel nicht gegeben.