LAG Hamm – 8 Sa 1825/10

Fristlose Kündigung – Diebstahl – Interessabwägung

Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 12.05.2011, 8 Sa 1825/10

Leitsätze:

Diebstahl einer Tafel Schokolade durch Lageristen im Lebensmitteleinzelhandel, welche wegen bevorstehender Überschreitung des Mindesthaltbarkeitsdatums bereits ausgesondert und zur Abgabe für soziale Zwecke bestimmt war; Interessenabwägung bei langjähriger beanstandungsfreier Tätigkeit führt zur Unwirksamkeit der Kündigung.

Tenor:

  1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hamm vom 30.09.2011 – 4 Ca 579/10 – wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.
  2. Die Revision wird nicht zugelassen.

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Tatbestand

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Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer fristlosen Kündigung, welche die Beklagte auf den Vorwurf bzw. Verdacht eines Diebstahls stützt. Ferner macht der Kläger einen Anspruch auf Weiterbeschäftigung für die Dauer des Rechtsstreits und Zahlungsansprüche unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzuges geltend.

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Der im Jahre 1952 geborene, mit einem GdB von 70 als Schwerbehinderter anerkannte, verheiratete und gegenüber zwei Kindern unterhaltspflichtige Kläger ist seit dem 19.06.1975 im Betrieb der beklagten Handelsgesellschaft als Lagerist im Lager H1 mit einem monatlichen Bruttoentgelt von 1.900,– € bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden beschäftigt. Die Beklagte beschäftigt in ihrem Betrieb mehr als 10 Arbeitnehmer.

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Mit Schreiben vom 18.03.2010 (Bl. 6 d. A.) sprach die Beklagte gegenüber dem Kläger eine fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses aus. Zuvor hatte die Beklagte den bei ihr gebildeten Betriebsrat unter dem 25.02.2010 zur beabsichtigten Kündigung angehört; der zur Gerichtsakte gereichte Anhörungsbogen vom 25.02.2010 (Bl. 57 d. A.), welcher zur Frage der Schwerbehinderung die Angabe „keine“ aufweist, wurde nach Behauptung der Beklagten durch einen korrigierten Anhörungsbogen vom selben Tage mit zutreffenden Angaben über die Schwerbehinderung des Klägers ersetzt. Ferner hatte die Beklagte vor Ausspruch der Kündigung die Zustimmung des Integrationsamtes beantragt. Diese wurde mit Bescheid vom 17.03.2010 (Bl. 5 d. A.) erteilt. Nach erfolglosem Widerspruch führt der Kläger ein diesbezügliches Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht.

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Zur Begründung der ausgesprochenen Kündigung hat die Beklagte vorgetragen, der Kläger habe am 24.02.2010 entgegen dem umfassenden Verbot, Ware aus dem Lager mitzunehmen oder zu verzehren, eine Tafel Schokolade, welche sich wegen bevorstehenden Ablaufs des Mindesthaltbarkeitsdatums in einem Retouren-Container befunden habe, an sich genommen und in seiner Arbeitsjacke versteckt,. Hierbei sei er beobachtet und zur Rede gestellt worden, worauf er erklärt habe, er habe die Schokolade nicht stehlen, sondern verzehren wollen. Demgegenüber hat der Kläger vorgetragen, er habe die Tafel Schokolade in einem Gang des Lagers auf dem Boden gefunden und an sich genommen, um sie nach Erledigung seiner aktuellen Arbeit in den Container zu legen. Abweichend vom Vortrag der Beklagten habe er nicht erklärt, die Schokolade verzehren zu wollen, vielmehr habe er dem betreffenden Gespräch mit Rücksicht auf seine starke Schwerhörigkeit nicht folgen können.

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Der Kläger hat im ersten Rechtszug beantragt:

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1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die fristlose Kündigung der Beklagten vom 18.03.2010 nicht beendet wird.

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2. Im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1) wird die Beklagte verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Lagerist weiter zu beschäftigen.

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3. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 6.496,77 € brutto abzüglich an die Bundesagentur für Arbeit zu zahlender 708,89 € netto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszins vom Differenzbetrag seit dem 30.06.2010 zu zahlen.

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4. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger für die Monate Juli 2010 und August 2010 jeweils weitere 1.900,– € brutto abzüglich an die Bundesagentur für Arbeit zu zahlende 1.119,30 € netto an den Kläger zu zahlen.

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Die Beklagte hat beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Durch Urteil vom 30.09.2010 (Bl. 89 ff.), auf welches wegen des weiteren erstinstanzlichen Parteivorbringens Bezug genommen wird, hat das Arbeitsgericht nach den Klageanträgen erkannt. Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt worden, ein wichtiger Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB, welcher der Beklagten die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar mache, liege auch auf der Grundlage des als wahr unterstellten Beklagtenvortrages nicht vor. Ausgehend vom Vortrag der Beklagten liege zwar in der Entnahme der Tafel Schokolade aus dem Retouren-Container ein Eigentumsdelikt zu Lasten der Beklagten, welches grundsätzlich geeignet sei, den Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung zu rechtfertigen. Auch wenn nicht verkannt werde, dass die Beklagte in besonderer Weise auf die Ehrlichkeit ihrer Mitarbeiter angewiesen sei, da sie mit Waren des täglichen Bedarfs handele, könne nicht unberücksichtigt bleiben, dass der wirtschaftliche Schaden im vorliegenden Fall nicht ins Gewicht falle. Berücksichtige man weiter die sozialen Folgen der Kündigung für den Kläger und seine ca. 36-jährige Betriebszugehörigkeit ohne dokumentierte Beanstandungen, müsse davon ausgegangen werden, dass hier der Ausspruch einer Abmahnung genügt haben würde, um dem Kläger die Bedeutung eines derartigen Fehlverhaltens vor Augen zu führen und ihm die Chance einzuräumen, das beeinträchtigte Vertrauen wieder herzustellen. In Anbetracht der Tatsache, dass der Kläger bei seiner Arbeit nicht damit rechnen könne, völlig unbeobachtet zu sein, könne von einer jederzeitigen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden. Dementsprechend erscheine der Kammer die Weiterbeschäftigung des Klägers, verbunden mit einer stichprobenartigen Kontrolle seines Verhaltens, als möglich und zumutbar. Wegen des Fortbestandes des Arbeitsverhältnisses sei die Beklagte zur Weiterbeschäftigung für die Dauer des Rechtsstreits sowie zur Zahlung der Arbeitsvergütung unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzuges verpflichtet.

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Mit ihrer rechtzeitig eingelegten und begründeten Berufung tritt die Beklagte unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens dem Standpunkt des arbeitsgerichtlichen Urteils entgegen, die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses sei der Beklagten nicht unzumutbar. Auch wenn nicht verkannt werde, dass die vom Kläger aus dem Retouren-Container entnommene Tafel Schokolade für die Beklagte selbst keinen wirtschaftlichen Wert mehr besessen habe, lasse dies weder den Diebstahlsvorwurf entfallen, noch könne unberücksichtigt bleiben, dass mit Entwendung der Schokolade der sozialen Zweck, abgelaufene Lebensmittel der „Hammer Tafel“ zur Verfügung zu stellen, verhindert werde. Im Übrigen sei die Erschütterung der für die Vertragsbeziehung notwendigen Vertrauensgrundlage unabhängig davon, welcher konkrete wirtschaftliche Schaden dem Arbeitgeber entstanden sei. Schon im Interesse der betrieblichen Ordnung müsse in einem Unternehmen des Lebensmittelhandels konsequent jeder Diebstahl als schwerer Vertragsverstoß beurteilt und mit entsprechenden Konsequenzen belegt werden. Bei der gebotenen Interessenabwägung habe das Arbeitsgericht zu Unrecht entscheidend auf die soziale Situation des Klägers abgestellt. Demgegenüber seien nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts die jeweiligen Umstände der Pflichtverletzung entscheidend. Wie sich aus der Vorgehensweise des Klägers und seinen nachträglichen Erklärungen ergebe, habe der Kläger nicht etwa sein Verhalten fälschlich als notfalls tolerabel oder jedenfalls korrigierbar eingeschätzt und den Unrechtsgehalt seiner Tat verkannt, vielmehr ergebe sich aus der Tatsache, dass der Kläger die Wegnahme der Schokolade durch ein Verstecken in seiner Arbeitsjacke zu verbergen versucht und auch nach der Entdeckung nicht freimütig die Wegnahme aus dem Retouren-Container eingeräumt, sondern eine Ausrede vorgeschoben habe, dass er sich zweifelsfrei des Unrechts seiner Tat bewusst gewesen sei. Unter diesen Umständen überzeuge es nicht, wenn das Arbeitsgericht allein wegen der längeren Betriebszugehörigkeit des Klägers eine Abmahnung als Reaktion auf den Diebstahl für ausreichend erachte. Abweichend von der Annahme des Arbeitsgerichts treffe auch die Überlegung nicht zu, der Kläger könne ohnehin nicht damit rechnen, bei seiner Arbeit unbeobachtet zu sein. Da bei der Beklagten pro Schicht 100 Kommissionierer auf einer Lagerfläche von 15.000 m² tätig seien, lasse sich eine stichprobenartige Kontrolle der Ehrlichkeit allenfalls theoretisch mit einem wirtschaftlich nicht vertretbaren Aufwand durchführen. Damit überwiege aber das Interesse der Beklagten an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses.

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Die Beklagte beantragt,

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unter Abänderung des arbeitsgerichtlichen Urteils die Klage abzuweisen.

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Der Kläger beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Entscheidungsgründe

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Die Berufung der Beklagten bleibt ohne Erfolg.

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I. In Übereinstimmung mit dem arbeitsgerichtlichen Urteil ist das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die angegriffene fristlose Kündigung nicht beendet worden.

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Unabhängig von der Frage der ordnungsgemäßen Betriebsratsanhörung und der fehlenden Bestandskraft des Zustimmungsbescheides des Integrationsamtes erweist sich die fristlose Kündigung auch auf der Grundlage des als wahr unterstellten Beklagtenvorbringens als unwirksam. In Übereinstimmung mit dem arbeitsgerichtlichen Urteil führt vielmehr die gebotene Interessenabwägung zu dem Ergebnis, dass der Ausspruch einer fristlosen Kündigung nicht als angemessene Reaktion auf die – als wahr unterstellte – Pflichtverletzung des Klägers angesehen werden kann.

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1. Allein der Umstand, dass es sich bei der entwendeten Tafel Schokolade nicht mehr um verkaufsfähige Ware handelte und aus diesem Grund mit der Entwendung der Schokolade ein wirtschaftlicher Schaden für die Beklagte nicht verbunden war, ändert allerdings nichts daran, dass auch ein derartiger Diebstahl „an sich“ geeignet ist, die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch fristlose Kündigung zu rechtfertigen. Unstreitig war die Tafel Schokolade nicht zur Vernichtung bestimmt, sondern sollte einem karitativen Zweck zugeführt werden. Dass ein Arbeitnehmer nicht berechtigt ist, für soziale Zwecke bereitgestellte Lebensmittel für sich zu verwenden, ein diesbezüglicher Diebstahl damit einen schweren Verstoß gegen die Vertragspflichten darstellt und die vertragliche Vertrauensbeziehung maßgeblich beeinträchtigt, kann nicht zweifelhaft sein.

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Andererseits kennt das Gesetz keine „absoluten Kündigungsgründe“, weswegen es auch im Falle eines Diebstahls einer Interessenabwägung bedarf, welche die jeweiligen Besonderheiten des Falles berücksichtigt, wenn die Frage zu beantworten ist, ob der Kündigungssachverhalt, welcher „an sich“ zur Kündigung geeignet ist, die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar macht. Da der Ausspruch einer Kündigung keine Sanktion für begangenes Fehlverhalten darstellt, kommt es für die sachliche Berechtigung der Kündigung maßgeblich darauf an, inwiefern durch das Fehlverhalten des Arbeitnehmers das Vertrauen in die künftige Vertragstreue derartig erschüttert oder endgültig zerstört ist, dass eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses – nach der gesetzlichen Regelung für die Dauer der ordentlichen Kündigungsfrist und bei ordentlich nicht mehr kündbaren Arbeitnehmern für die Dauer der künftigen Vertragsbindung (KR/Fischermeyer, § 626 BGB Rn. 302 m.w.N.) – als unzumutbar erscheint.

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2. Vorliegend geht es um die Beurteilung eines einmaligen Fehlverhaltens eines Arbeitnehmers, der sich seit ca. 36 Jahren vertragstreu bzw. im Hinblick auf die erforderliche Vertrauensbeziehung beanstandungsfrei verhalten hat. Richtig ist zwar, dass auch bei länger beschäftigten Arbeitnehmern nicht jedwedes erstmalige Fehlverhalten als unbedeutend, abmahnfähig oder minderschwerer Kündigungsgrund angesehen werden kann, weil ansonsten – wie die Beklagte zu Recht einwendet – in derartigen Fällen das Mittel einer fristlosen Kündigung von vornherein ausgeschlossen wäre. Wie die Beklagte indessen selbst betont, kommt es entscheidend darauf an, ob bereits die erst- und einmalige Pflichtverletzung des Arbeitnehmers die erforderliche Vertrauensbeziehung definitiv zerstört.

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a) Das gesteigerte Interesse der Beklagten, als Lebensmittelhandelsunternehmen vor Mitarbeiterdiebstählen konsequent geschützt zu werden, betrifft jedenfalls vorrangig den zum Verkauf bestimmten Warenbestand. Ein hierauf bezogener Diebstahl eines Lagerarbeiters wird damit in aller Regel zur endgültigen Zerstörung der Vertrauensbeziehung und zur Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses führen. Das auf die verkaufsfähige Ware bezogene Integritätsinteresse der Beklagten ist indessen durch das Verhalten des Klägers nicht berührt. Der Kläger hat nicht etwa aus dem zum Verkauf bestimmten Warenbestand eine Tafel Schokolade entwendet, deren Haltbarkeitsdatum zufällig und unerkannt bereits abgelaufen war, was den Unrechtsgehalt des Diebstahls kaum abschwächen könnte, vielmehr hat der Kläger das Eigentum der Beklagten konkret in Bezug auf erkennbar nicht zum Verkauf bestimmte Ware verletzt, indem er die Tafel Schokolade aus dem Retouren-Container entnommen hat.

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b) Soweit die Beklagte darauf verweist, im Retouren-Container werde nicht nur Ware mit abgelaufenen Haltbarkeitsdatum, sondern auch fehlgeleitete und zur Rücksendung bestimmte verkaufsfähige Ware transportiert, ändert dies nicht daran, dass sich der Kläger eben nicht an verkaufsfähiger Ware – gleich ob aus dem Regal oder dem Container – vergriffen, sondern eine nicht mehr verkaufsfähige Ware entwendet hat und damit die Redlichkeit des Klägers nicht umfassend in Bezug auf den gesamten werthaltigen Warenbestand infrage gestellt ist. Demgegenüber vermag die Kammer die Schlussfolgerung der Beklagten nicht nachzuvollziehen, der Kläger sei ganz allgemein nicht bereit, das berechtigte Interesse der Beklagten am Erhalt ihres Eigentums zu achten.

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c) Auch der Einwand der Beklagten, der Kläger habe – wie die Beobachtung des Tatgeschehens zeige – nicht etwa gezielt nach Ware mit abgelaufenen Haltbarkeitsdatum gesucht, vielmehr habe sich die entwendete Schokolade gleichsam nur zufällig als „abgelaufen“ erwiesen, gibt keinen Anlass zu einer abweichenden Beurteilung. Dass sich im Retouren-Container neben einzelnen Tafeln „abgelaufener“ Schokolade auch fehlgelieferte und zur Rücklieferung bestimmte einzelne Tafeln Schokolade als reguläre Retourenware – zumal einzeln ohne Umverpackung in einem verschlossenen Karton – befunden hätten, trägt die Beklagte selbst nicht vor und erscheint den Umständen nach als unrealistisch. Auch wenn grundsätzlich – wie die Beklagte betont – die im Retouren-Container gelagerten Waren einem gesteigerten Diebstahlsrisiko ausgesetzt sind, weil anders als bei einem Diebstahl aus dem Lagerbestand ein Aufreißen von Kartons o. ä. entfällt, bleibt es in Bezug auf den hier maßgeblichen Diebstahl dabei, dass der Kläger eben keine verkaufsfähige Retourenware, sondern objektiv eine nicht mehr verkaufsfähige Tafel Schokolade entwendet hat und auch keinen Anlass zu der Annahme hatte, eine im Container befindliche einzelne Tafel Schokolade sei als fehlgeliefert zur Rücksendung bestimmt. Für die Schlussfolgerung, der Kläger achte das Eigentum der Beklagten grundsätzlich oder jedenfalls hinsichtlich sämtlicher im Retouren-Container gelagerten Lebensmittel nicht, bietet der vorliegende Sachverhalt keine Grundlage. Auch die von der Beklagten vorgetragene Erklärung des Klägers, er habe das Diebesgut verzehren wollen, spricht im Übrigen deutlich dagegen, dass der Kläger wahllos Lebensmittel aus dem Container ohne Rücksicht auf ihre Verkaufsfähigkeit an sich bringen wollte. Deutlich näher liegt die Erklärung, dass es dem Kläger tatsächlich um die Wegnahme einer im Container gesichteten Tafel Schokolade gegangen ist, von welcher den Umständen nach anzunehmen war, dass sie als nicht mehr verkaufsfähig aussortiert worden war. Dass der Kläger ohne Bedenken auch verkaufsfähige Schokolade hätte entwenden und verzehren wollen, ist damit durch die vorgetragenen Umstände auch nicht ansatzweise belegt.

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d) Auch wenn der Beklagten zuzugestehen ist, dass eine Kontrolle der im Lager beschäftigten Arbeitnehmer praktisch unmöglich oder jedenfalls mit vertretbarem Aufwand nicht durchführbar ist, bleibt zu beachten, dass der festgestellte Pflichtenverstoß des Klägers sich auf einen Diebstahl aus dem Retouren-Container beschränkt hat, ohne dass Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Kläger ebenso gut verkaufsfähige Ware aus dem Lagerbestand entwenden könnte. Damit bleibt festzuhalten, dass das zu beurteilende Unrecht nicht mit einem typischen Diebstahl verkaufsfähiger Ware oder einem „Griff in die Kasse“ gleichgesetzt werden kann. Abweichendes kann auch nicht aus der „Heimlichkeit“ der Diebstahlshandlung hergeleitet werden. Dass der Kläger die Tafel Schokolade nach Entnahme aus dem Container nicht offen herumgetragen, sondern in die Jackentasche gesteckt hat, erklärt sich ohne weiteres aus dem regulären Arbeitsablauf, nicht hingegen lässt sich hieraus ableiten, der Kläger habe gerade hierdurch seine fehlende Bereitschaft zur Beachtung der betrieblichen Ordnung und des Arbeitgebereigentums zu erkennen gegeben.

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e) Auf dieser Grundlage kann aber eine umfassende Zerstörung des Vertrauens in die Redlichkeit des Klägers nicht angenommen werden. Die berechtigte Sorge der Beklagten um den Schutz des werthaltigen Lagerbestandes erfordert es nicht, ohne Rücksicht auf die dargestellten Besonderheiten des Falles und die langjährige beanstandungsfreie Tätigkeit des Klägers das bestehende Arbeitsverhältnis fristlos zu beenden.

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3.. Auch soweit die Beklagte auf den Gesichtspunkt der betrieblichen Ordnung verweist und – zweifellos zu Recht – jede Wegnahme oder jeden Verzehr von Waren aus dem Bestand der Beklagten verbietet, um Missbräuche oder Missverständnisse auszuschließen, führt dies nicht zu einer von der Einzelfallbeurteilung gelösten Annahme der Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses. Der Beklagten ist zuzugestehen, dass die erforderliche Betriebsdisziplin nur durch konsequente Anwendung der bestehenden Ordnungsregeln gewahrt werden kann. Hieraus folgt jedoch nicht, dass zur Wahrung der betrieblichen Ordnung stets und ausnahmslos allein eine fristlose Kündigung in Betracht kommt. Vielmehr ist es gegebenenfalls Sache des Arbeitgebers, gegenüber der Belegschaft unter Hinweis auf die Besonderheiten des Einzelfalls dem Eindruck entgegen zu treten, im Absehen von einer Kündigung liege eine entsprechende Billigung oder Abkehr von dem Grundsatz, dass auf einen Warendiebstahl mit einer fristlosen Kündigung reagiert wird. Auch der Hinweis auf die Einhaltung der betrieblichen Ordnung ändert nichts an der Notwendigkeit einer Einzelfallbeurteilung unter Berücksichtigung der langjährigen beanstandungsfreien Tätigkeit des Klägers und der bislang gezeigten Vertragstreue.

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4. Berücksichtigt man nach alledem die dargestellten Besonderheiten des Falles, den fehlenden eigenen wirtschaftlichen Schaden der Beklagten und die sozialen Folgen für den Kläger, welche sich aus dem Verlust des Arbeitsplatzes ergeben würden, so kann dem Standpunkt der Beklagten zur Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht beigetreten werden.

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II. Aus dem Fortbestand des Arbeitsverhältnisses ergibt sich die Verpflichtung der Beklagten, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens arbeitsvertragsgemäß weiter zu beschäftigen.

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III. Weiter folgt aus der Unwirksamkeit der Kündigung die Verpflichtung der Beklagten zur Zahlung von Arbeitsvergütung unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzuges. Gegen die Berechnung der Klageforderung sind Bedenken nicht zu erkennen.

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IV. Die Kosten der erfolglosen Berufung hat die Beklagte zu tragen.

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V. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision gemäß § 72 ArbGG liegen nicht vor.

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Vorinstanz:   Arbeitsgericht Hamm, Urteil vom 30.09.2011, 4 Ca 579/10

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