LAG Berlin-Brandenburg – 15 Sa 911/12

Krankheitsbedingte Kündigung – Alkoholsucht – Beeinträchtigung betrieblicher Interessen

Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg,  Urteil vom 05.09.2012, 15 Sa 911/12
 

Leitsätze des Grichts

  1. Es bestehen Bedenken, ob ein einziger erneuter Alkoholkonsum während einer ambulanten Therapie bei einem an Alkoholsucht leidenden Arbeitnehmer eine negative Prognose rechtfertigen kann.
  2. Jedenfalls kann eine erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen nicht festgestellt werden.
  3. Die Ungeeignetheit eines Arbeitnehmers unter dem Gesichtspunkt der Eigen- und Fremdgefährdung kann in der Regel nicht angenommen werden, wenn es an alkoholbedingten Ausfallerscheinungen bei der betrieblichen Tätigkeit fehlt.

Tenor

I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 27.04.2012 – 18 Ca 15715/11 – wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

II. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer Kündigung vom 29. September 2011 zum 31. März 2012. Hinsichtlich des unstreitigen Sachverhalts und des Vorbringens der Parteien in der ersten Instanz wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils verwiesen (§ 69 Abs. 2 ArbGG).

2

Mit Urteil vom 27. April 2012 hat das Arbeitsgericht Berlin der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Da der Kläger zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit gehabt habe, unter Herauslösung aus seinem alltäglichen Umfeld, wo stets und überall Verlockungen zum Alkoholkonsum lauern, sich über einen längeren Zeitraum hin einer ganzzeitlichen Behandlung in einer Kurklinik zu unterziehen, können aus dem zweiten Rückfall im Jahre 2011 nicht auf eine weitere Aktivierung der latent fortbestehenden Alkoholerkrankung in der Zukunft geschlossen werden. Es können auch nicht angenommen werden, dass der Kläger als Betriebselektriker nicht mehr einsetzbar wäre. Insofern habe der Beklagte nicht vorgetragen, dass der Kläger zu irgendeinem Zeitpunkt während der Arbeitszeit alkoholisiert oder in Folge anderer Ausfallerscheinungen aufgrund der Alkoholsucht nicht einsatzfähig gewesen wäre oder erhebliche Fehlleistungen erbracht hätte.

3

Dieses Urteil ist dem Beklagten am 3. Mai 2012 zugestellt worden. Die Berufung ging am 16. Mai 2012 und die entsprechende Begründung am 3. Juli 2012 beim Landesarbeitsgericht ein.

4

Der Beklagte ist der Ansicht, dass ihm nicht vorgehalten werden könne, dass es nicht zu einer stationären Therapie gekommen sei. Auf die Therapieform habe er keinen Einfluss. Der Kläger habe nunmehr zum wiederholten Mal gezeigt, dass er unfähig sei, eine zwingend gebotene Alkoholabstinenz einzuhalten. Betriebliche Beeinträchtigungen lägen vor. Der Kläger arbeite auch an 220 Volt Stromanlagen (Steckdosen, Schalter etc.). Insofern könne auch ein einmaliger „Fehltritt“ zu erheblichen Verletzungen des Klägers oder anderer Mitarbeiter führen. Da der Kläger überwiegend allein arbeitet, sei eine permanente Kontrolle durch Kollegen und Vorgesetzte nicht möglich. Das Arbeitsgericht habe auch nicht berücksichtigt, dass eine zu erwartende hohe Fehlzeitensymptomatik mit entsprechendem Vertretungsaufwand zu erheblichen betrieblichen Beeinträchtigungen führe.

5

Der Beklagte beantragt,

6

unter Abänderung des Urteils erster Instanz die Klage abzuweisen.

7

Der Kläger beantragt,

8

die Berufung der Berufungsklägerin zurückzuweisen.

9

Der Kläger behauptet, der Personalleiter des Beklagten habe eine stationäre Behandlung abgelehnt. Die Kündigung sei schon deswegen unwirksam, weil der Beklagte nur abstrakte Gefahren dargestellt habe.

 


Entscheidungsgründe

I.

10

Die Berufung des Beklagten ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.

II.

11

Die Berufung hat jedoch keinen Erfolg. Zu Recht hat das Arbeitsgericht Berlin entschieden, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung vom 29.09.2011 nicht aufgelöst worden ist. Insofern war die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

12

1. Der Beklagte beruft sich hinsichtlich des Kündigungsgrundes auf die unstreitig bestehende Alkoholerkrankung des Klägers. Insofern gelten nach der Rechtsprechung des BAG die Grundsätze einer krankheitsbedingten Kündigung. Die Prüfung hat in drei Stufen zu erfolgen: Negative Prognose hinsichtlich des voraussichtlichen Gesundheitszustandes; erhebliche Beeinträchtigungen der betrieblichen Interessen und allgemeine Interessenabwägungen (BAG vom 16.09.1999 – 2 AZR 123/99 – NZA 2000, 141).

13

2. Hinsichtlich der ersten Stufe bestehen Bedenken, ob ein einziger erneuter Alkoholkonsum während einer ambulanten Therapie bei einem an Alkoholsucht leidenden Arbeitnehmer eine negative Prognose rechtfertigen kann. So wird betont, dass es keinen Erfahrungssatz gebe, wonach ein Rückfall nach einer zunächst erfolgreichen Entwöhnungskur und längerer Abstinenz ein endgültiger Fehlschlag jeglicher Alkoholtherapie für die Zukunft bedeute (LAG Berlin-Brandenburg vom 17.08.2009 – 10 Sa 506/09 – juris Rd.-Nr. 66 mit zustimmender Anmerkung Kohte, juris PR-ArbR 15/2100 Anm. 6; LAG Rheinland-Pfalz vom 10.02.2011 – 10 Sa 419/10 – juris Rd.-Nr. 40).

14

Ob dies zutrifft, soll hier offen bleiben. Ebenfalls braucht nicht entschieden zu werden, ob ein Arbeitgeber nach erfolgter ambulanter Therapie und einem Rückfall verpflichtet ist, dem Arbeitnehmer die Chance einer stationären Entziehungskur einzuräumen (bejahend für eine ordentlich unkündbare Klägerin LAG Rheinland-Pfalz a. a. O. Rd.-Nr. 41).

15

3. Jedenfalls kann vorliegend eine erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen des Beklagten nicht festgestellt werden.

16

3.1 Eine solche Beeinträchtigung kann sich aus erheblichen Lohnfortzahlungskosten ergeben (BAG vom 17.06.1999 – 2 AZR 639/98 – NZA 1999, 1328). Der Beklagte hat zu den Entgeltfortzahlungskosten nichts vorgetragen. Im Übrigen hat er hierzu auch den Betriebsrat in dem Anhörungsschreiben vom 21. September 2011 (Bl. 37 ff. d. A.) nicht angehört.

17

3.2 Im Gegensatz zur Auffassung des Beklagten kann der Kläger auch nicht als ungeeignet angesehen werden. Die Ungeeignetheit eines Arbeitnehmers unter dem Gesichtspunkt der Eigen- und Fremdgefährdung kann in der Regel nicht angenommen werden, wenn es an alkoholbedingten Ausfallerscheinungen bei der betrieblichen Tätigkeit fehlt. Solche Ausfallerscheinungen hat der Beklagte seit Abschluss der Therapievereinbarung vom 5. Oktober 2010 jedoch nicht vorgetragen.

18

Ein alkoholbedingter erneuter Rückfall muss nicht zwangsläufig zur Auswirkungen in der betrieblichen Tätigkeit selbst führen. Dies hängt vielmehr von der Intensität des Alkoholkonsums, dessen Dauer und ggf. auch einer erneuten Therapiebereitschaft des Arbeitnehmers ab. Gerade eine schnelle Therapiebereitschaft kann dazu führen, dass es nicht oder kaum zu Auswirkungen in der arbeitsvertraglich geschuldeten Tätigkeit kommt.

19

Dem steht nicht die Rechtsprechung des BAG entgegen. Soweit das BAG angenommen hat, dass ein Hafenarbeiter angesichts seiner Trunksucht im Hinblick auf eine Selbst- und Fremdgefährdung nicht einsetzbar sei (13.12.1990 – 2 AZR 336/90 – juris Rd.-Nr. 22), war dem vorausgegangen, dass der betrunkene Kläger von Bord eines Schiffes gewiesen worden war. Im Falle eines Heimerziehers waren es die völlige Desorientierung des Arbeitnehmers und seine beleidigenden Äußerungen, mit denen das Bundesarbeitsgericht eine erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen gerechtfertigt hat (BAG vom 16.09.1999 – 2 AZR 123/99 – NZA 2000, 141). Der hiesige Fall ist auch nicht mit dem des LAG München (10.05.2012 – 3 Sa 1134/11 – juris) vergleichbar, denn auch dort war der Hofarbeiter zuvor trotz eines strickten Alkoholverbotes mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,8 Promille bei der Arbeit angetroffen worden.

20

Dass Alkoholerkrankte bei dem Beklagten als Betriebselektriker aufgrund von Unfallverhütungsvorschriften oder sonstigen öffentlich-rechtlichen Vorschriften nicht beschäftigt werden können, hat der Beklagte nicht vorgetragen (vgl. hierzu LAG Berlin-Brandenburg 17.08.2009 – 10 Sa 506/09 – juris Rd.-Nr. 69).

21

3.3 Auch die sonstigen vom Beklagten vorgetragenen Umstände rechtfertigen nicht die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen.

22

Insofern hat der Beklagte erstinstanzlich vorgetragen, dass die Fehlzeiten des Klägers ihre Planungssicherheit stark beeinträchtigen und damit kurzfristige aufwändige Vertretungsregelungen notwendig machen würden. Auf andere Mitarbeiter kämen kurzfristige Vertretungsregelungen verbunden mit Mehrarbeit und Überstunden zu. Dies ist nicht ausreichend. Es fehlt schon ein substanziierter Vortrag, bei welchen Erkrankungen des Klägers in der Vergangenheit es zu welchen dieser Maßnahmen gekommen seien soll.

23

4. Da sich die Kündigung schon bei Berücksichtigung der zweiten Prüfungsstufe als unwirksam erweist, kann offen bleiben, ob die durchzuführende allgemeine Interessenabwägung ebenfalls zugunsten des Klägers ausschlagen würde. Ebenfalls muss nicht entschieden werden, ob die Betriebsratsanhörung gemäß § 102 BetrVG unwirksam war.

III.

24

Der Beklagte hat die Kosten des erfolglosen Rechtsmittels zu tragen (§ 97 ZPO).

25

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 72 ArbGG). Auf die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde (§ 72 a ArbGG) wird hingewiesen.

Diese Entscheidung wurde mit verschlagwortet.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.